“En una sociedad que nos educa a la verguenza, el orgullo es una respuesta politica” – In einer Gesellschaft, die uns zur Scham erzieht, ist der Stolz eine politische Tat

Ein Deutungsversuch. Von Wolfgang Haider/ Zwei Wochen Aufenthalt in Buenos Aires endeten für den Autor dieser Zeilen in der spontanen Teilnahme am „Marcha del orgullo“, (Gay Pride Parade) der in Buenos Aires zum sechsten Mal ausgetragenen Regenbogenparade für Lesben, Schwule, Bi-, Trans- Intersexuelle und Freund_innen. Inspiriert von dieser bunten, lauten, fröhlichen und sehr kämpferischen Veranstaltung folgen in den folgenden Zeilen einige Reflexionen, die von der subjektiven Erfahrung eines – sehr kurzen – Aufenthalts abstrahieren. Dabei werden verschiedene Facetten – konkret Sport, Kultur und Politik –  des Lebens in Buenos Aires behandelt, in die der Autor hineinschnuppern durfte.

„El más grande“ – dieser Schriftzug ziert die Rückseite des Trikots eines der größten Fußballvereine Argentiniens – des Club Sportivo River Plate. Der Klub ist ein Teil einer, wenn nicht der größten Rivalität im Fußball: Superclasicó Boca Juniors vs. River Plate. Dabei ist dieses Spiel keineswegs das einzige, das in der Hauptstadt von Argentinien von großer Konkurrenz geprägt ist. 16 Teams der 20 Mannschaften umfassenden Liga kommen aus dem Großraum Buenos Aires. Für die hinchadas, wie die Anhänger der Klubs genannt werden, spielt dabei die territoriale Verbundenheit zum Verein eine tragende Rolle. Unterstützt wird der Klub aus dem eigenen Viertel, die Stadien der Vereine sind nicht nur dem Fußball gewidmet, sondern beherbergen meist andere Sportvereine, wie Jin Jitsu oder Tischtennis, oder auch soziale Einrichtungen, Restaurants und Geschäfte. Die canchas („Sportplatz“) bilden oft den Kern des Lebens im Viertel und repräsentieren den ganzen Stolz der Menschen, die sich mit dem Klub verbunden fühlen. Der Stolz, der aus dieser Verbundenheit gezogen wird, ist dabei keineswegs auf das sportliche Leistungsvermögen der Spieler beschränkt. Vielmehr ist es der Verein selbst, dem sich die „socios“ (dt. Mitglieder – die offiziellen Mitglieder des Vereins) verschreiben. Denn tatsächlich dominiert bei den argentinischen Profiklubs die Organisationsform eines Mitgliedervereins, bei dem die Mitglieder selbst über Teile der Entwicklung des Vereins bestimmen können, zumindest aber den Präsidenten aus den eigenen Reihen wählen. Während in Europa längst die Kapitalgesellschaften Einzug gehalten haben und die Profibetriebe ausgelagert sind, ist dies in Argentinien, zumindest vorerst, noch undenkbar. Zu sehr sind die Mitglieder mit ihrem Verein verbunden, zu sehr ist auch der Verein selbst von diesen abhängig.

Dekoloniale Fankultur?

Die argentinischen Fans selbst sind seit jeher in der ganzen Welt für ihren fanatischen Support der eigenen Mannschaft bekannt. Übrigens sind im Stadion nicht nur junge Männer, obwohl diese natürlich gerade in der Fankurve den Kern bilden – sondern auch Frauen und Familien. Ihr Stolz drückt sich dabei nicht nur im Stadion durch kontinuierliche Gesänge und Liebesbekundungen aus, sondern beispielsweise auch durch die Allgegenwärtigkeit von Tätowierungen, die voller Stolz die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Verein ausdrücken. Eines der beliebtesten Motive hierbei ist das jeweilige Stadion, oftmals den ganzen Rücken einnehmend. Die bedingungslose Identifizierung mit dem Verein und der wallende Stolz war es dabei auch, der bereits früh Wiederhall in europäischen Fankulturen fand. Die in Europa in den 60-70er Jahren (in der Literatur finden sich unterschiedliche Angaben) entstandene Ultra-Kultur orientierte sich dabei unter anderem am Support, Organisation und Selbstverständnis v.a. südamerikanischer Kurven. Keineswegs ist die europäische Ultra-Kultur als Kopie der südamerikanischen „Barras Bravas“ (dt. Wilde Horde – der harte Kern der Unterstützer) zu verstehen doch viele Elemente finden sich in beiden Kulturen wieder. Stil, Gehabe und Einstellungen zeigen Parallelen auf, die nicht von der Hand zu weißen sind. Wieviel davon eigenständig entstanden ist und wieviel übernommen wurde, lässt sich heute nur mehr schwer nachvollziehen. Während die Vereinheitlichung des Spiels an sich, vorangetrieben durch die FIFA, von europäischen Akteuren bestimmt wurde, war der Einfluss bezüglich der Fankultur andersherum. Hier wirkte das stolze Auftreten der „socios“ u.a. aus Buenos Aires als Inspirationsquelle für europäische Selbstverständnisse. Es kann durchaus die Frage in den Raum geworfen werden, ob gerade in diesem Prozess nicht auch ein dekoloniales Moment steckt. Der Bezug auf den Fußball, der durch den Verein zum Ausdruck kommende Stolz, kann durchaus als eine Umkehrung der sonst – auch im Fußball geltenden – globalen Machtverhältnisse gedeutet werden. Nicht vergessen werden darf dabei natürlich die weniger farbenfrohe Komponente beider Fankulturen, nämlich ihr Naheverhältnis zur organisierten Kriminalität.

Die homogene Oper

Weniger dekolonial ist ein anderer Aspekt des Stolzes, der Reisenden in Buenos Aires entgegnen kann. Das Teatro Colón wird sowohl von Argentiniern als auch von Reisenden gerne als das schönste Opernhaus in Lateinamerika bezeichnet. Und tatsächlich: Bereits beim Betreten des Gebäudes wird einem deutlich, dass hier an Prunk nicht gespart wurde und sich dieses Haus was Eleganz und Glanz betrifft keineswegs vor seinen europäischen Kollegen verstecken muss. Die Galerien ragen majestätisch vom Parkett empor und offenbaren den Blick auf die Bühne, auf der meist klassische Stücke der europäischen Tradition aufgeführt werden. Auch die Besucher könnte man eins zu eins in einem der großen europäischen Opernhäuser wiederfinden: Frack und Smoking, sowie schicke Abendkleider, getragen von weißen alten Männern und ihren meist etwas jüngeren Begleitungen. Das Publikum bildet hier eine scheinbar homogene Masse, eine Verbindung bestimmter sozialer Schichten zwischen Europa und Lateinamerika. Hier wir dort ein Produkt für eine elitäre gesellschaftliche Gruppe, ausgedrückt nicht zuletzt durch den Preis, der im Teatro Colon für die billigsten Tickets um die 80 Euro beträgt, wobei der Besuch eines Fußballstadions der höchsten Liga teilweise schon ab weniger als 10 Euro möglich ist. Der Stolz ist in diesem Kontext dennoch spürbar. Weniger wirkt dieser hier aber als Stolz auf etwas selbst geschaffenes, sondern vielmehr als der Stolz, auch zu dieser homogenen Masse dazuzugehören. Der Stolz kann hier kaum als dekoloniale Abstreifung betrachtet werden, sondern vielmehr als Ausdruck eines kolonialen Kulturverständnisses, dass als Zentrum den Kanon europäischer Kulturschaffender hat.

 

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Der Stolz als politischer Akt

Während die Szene in der Oper sehr exklusiven Charakter hat, nimmt der „Marsch des Stolzes“ ganz explizit eine inklusive Position ein. In europäischen Gefilden bekannt unter Regenbogenparade oder „gay-pride march“ fand dieser von LGBTQ-Aktivist_innen ins Leben gerufene Umzug zum sechsten Mal auch in Buenos Aires statt. Der Stolz der dort zur Schau getragen wird, darf getrost als dekolonial bezeichnet werden. Traditionelle Geschlechterrollen, konservative Wertvorstellungen und religiöse Moral gehen nicht zuletzt auf den Einfluss der europäischen Konquistadoren zurück. Dabei braucht die Manifestation in Buenos Aires gar nicht explizit auf so eine Begrifflichkeit wie Dekolonialität Bezug zu nehmen, sondern stellt durch ihr bloßes in-Fragestellen des kolonialen Verhaltens und Wertekorsetts bereits einen Akt der Dekolonialität dar. Darüber hinaus deutet sich in diesem Verständnis des Stolzes als politischer Akt eine breite und inklusive soziale Bewegung an, die man in Europa – zumindest aber in Wien – bei solch einer Veranstaltung durchaus vermissen kann. Kein Redebeitrag vergeht ohne massive Angriffe auf die neoliberale Politik des argentinischen Präsidenten Macri, kein Redebeitrag vergisst auf die Solidarisierung mit andern sozialen Bewegungen und politischen Protesten, kein Redebeitrag lässt politische Repression gegenüber der politischen Opposition gegen dominierende neoliberale Gesellschaftmodelle aus. Der Machismo als Alltagsphänomen wird kontinuierlich angeprangert und kann hier auch als Brücke zum eingangs geschilderten Stolzes im Fußball gesehen werden. Denn gerade dort ist dieser Machismo ein allgegenwärtiger Begleiter, auch wenn teilweise dekoloniale Momente in der Fankultur zu erkennen sind. Denn auch in einem der Redebeiträge wird der Sport und insbesondere der Fußball als immanentes Handlungsfeld geschildert, indem Inklusion und Anti-Diskriminierungsarbeit potentiell saftige Früchte tragen können. Um dieses Versprechen, das dem Sport seit jeher innewohnt, allerdings auch einzulösen, müsste das Motto des „Marcha de orgullo“ vergegenwärtigt werden: “En una sociedad que nos educa a la verguenza, el orgullo es una respuesta politica”.

Text und Fotos (C) Wolfgang Haider