Bertran (Warschau). Aus dem Maschinenraum #1

von Michael Brunner/

Bertran ist auf dem Nachhauseweg von wer-weiß-wo einkaufen gewesen. Er sieht mich nicht, sieht nichts, taxiert nicht den Raum. Jetzt setzt er sich zu mir an den aus Sperrholz gezimmerten Tisch. Er packt zwei unglaubliche Tortenstücke aus einer hochglanzbedruckten Konditorenschachtel aus. Dann isst er aber erst mal ein nahrhaft aussehendes mit Käse und Speck überbackenes Brötchen, das er noch zusätzlich üppig mit Salami und Weichkäse belegt. Sein Blick hellt sich auf. Er kommt ein bisschen im Diesseits an. Bertran ist ein großer Kerl. Er sieht gut aus. Er hat glänzende, nachlässig oder vor allem lässig nach hinten gekämmte schwarze Haare. Harte, kantige Optik, offener Blick, schüchterner Schritt. Ich bin da anders. Ich bin klein, aber ich trample und stampfe und halte mich aufrecht. Das sind wir zwei.

Wir sitzen am morgen im Frühstücksraum des Hostels, in dem wir beide übernachten. Man darf sich dort selbst sein Frühstück zubereiten oder eines kaufen. Der Kühlschrank hat während der Nacht, als ich dort auf den Morgen gewartet habe, mit seinem ärgerlichen Dröhnen und seinem vollgefressen glucksenden Bauch wie ein bedrohlicher Geist da gestanden. Jetzt wird er aber von allen akzeptiert und öffnet seine Tür. Gelegentlich kommen und gehen Leute. Sie setzen Kaffeewasser auf und laufen schnell die Treppe hinunter zum Supermarkt im Erdgeschoss. Wenn die Filterkaffeemaschine brodelt, kehren sie mit vollen Brötchentüten zurück. Sie holen Käsescheiben in Plastikschalen aus dem Kühlschrank und Honigtöpfe aus den Regalen.

Eine in Karamell gehüllte Walnuss liegt auf der Cremetorte, die Bertran jetzt in Angriff nimmt, halb eingesunken in der Buttercreme. Bertran schlingt das halbe Tortenstück mit einem Bissen hinunter, man hört die Karamellnuss irgendwo in seinen aufgeblähten Backen knacken und man stellt sich vor wie die süßen Splitter und der Speichel und die Creme vermischt durch die große Lücke zwischen seinen Schneidezähnen quellen. Er riecht nach Zigarettenrauch. Seine Lider sind schwer. Sein Körper, der ist jetzt gelockert und seine ellenlangen Glieder haben in der Nacht, im Club, eine sinnvolle Ausrichtung bekommen. Im Oktober war er in Prag, jetzt Warschau, als nächstes Berlin. Überall trinken, , tanzen, ephemeren Sex. Dann wieder zurück. Billigflug. Billighostel. Im Hemd schlafen. Lohnt sich gar nicht auszuziehen. Er trägt seit vier Tagen, seit ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, dasselbe weiße Hemd. Es hat einen ziemlich großen, braunroten Blutfleck an seinem rechten Ärmel, so dass man es gut identifizieren kann. Am Abend duschen, das Hemd lüften, dann das Hemd wieder anziehen, After shave. Jetzt ordentlich futtern. Ein netter Kerl. „Get a fork“, sagt Bertran, „we share that cake. It’s called Toffee-cake. It is to big for one.” Ich stehe auf und hole eine Gabel aus einer der Schubladen und nehme eine Tasse für Bertran von einem Regal oberhalb der Spüle, damit ich ihm Kaffee anbieten kann.

„Our american friend has already left“, sagt er. Er meint John, den beleibten floridianischen Backpacker, mit dem ich am Abend vorher einige Worte gewechselt habe, als Bertran und er sich mit dem drogenverseuchten Typen aus Mexiko für die Nacht eingesoffen haben. Offen gesagt habe ich auch mit Betran erst ein, zwei Sätze ausgetauscht, sonst nur alberne heruntergekühlte Blicke gewechselt. Aber an diesem morgen, also kurz vor Montag, wenn er in Uppsala wieder seinen Job als IT-Sklave in der unteren Ebene eines Internet-Startups antreten muss, reden wir wie alte Freunde. Er spricht über Berlin, sein nächstes Ziel.  Er war noch nie dort. Man könne dort ganz billig hinfliegen von Uppsala aus. Von Uppsala aus gehe alles günstig, aber dort sein sei ziemlich teuer, meint er. „Alkohol?“, frage ich. „Ja genau“, aber aus Alkohol mache er sich eigentlich nicht so viel. Clubbing ist sein Ding. Tanzen, Leute kennen lernen. Er fragt mich nach Berlin und ich behaupte, dass man in Berlin gut „clubbing“ machen könne, und auch wie und wo, so weit ich eben davon gehört habe. Ich merke, dass ich einfach seine Vorstellungen aussprechen will, weil das der leichteste Weg ist, weil Kommunikation so eine elend schwere Aufgabe ist. Es drängt mich dazu es leicht zu machen.

Für eine Weile wird es still. Wie sieht jemand aus, der gerade nichts denkt? So wie Bertran beim Kuchen essen. Dieser Mann ist gerade nicht im Denkmodus, sondern eher im Übergang. Vielleicht beim Tanzen im Denkmodus. Und sonst immer nur im Übergang. Jetzt jedenfalls. Zwischen Warschau und Uppsala. Zwischen Arbeit und Abseits, zwischen Tag und Nacht, zwischen Notwendigkeit und Entfaltung. Aber immer einsam, nur meistens ohne Gefühl, ohne Trauer darüber. Jetzt aber findet er sich plötzlich dabei wieder warten zu müssen. Niemand zur Hand als dieser Typ da, ich, dem man jetzt ein bisschen Gemeinsamkeit abquetschen muss, um alles erträglich zu machen. Gerade ist da sonst nur ein Loch.

Er nimmt ein riesiges Stück von der Toffeetorte und steckt es sich in den Mund. Er sagt irgendetwas über den Kuchen. Ich breche mit meiner Gabel durch die steinharte Schokoladenschicht und das zähklebrige Toffee und die Buttercreme und dazwischen die hauchdünnen Schichten von Biskuit und koste ein ansehnliches Stück. Ich sage ebenfalls etwas, krass oder lecker oder dergleichen. Das ist ja wohl ein Ritual, das Ganze. Ein künstliches Etwas, ein nicht-Geborenes, ein von uns gewolltes Ding. Bertran nimmt noch ein Stück und dann wieder ich. Ich fühle die Nähe im Entfernten. Teilen. Teilbares finden. Schönheit. Wir arbeiten an einem Symbol der gemeinsamen Existenz, Bertran und ich. Ich habe mein Schneckenhaus zu Hause, ich bin hier fremd. Er trägt es mit sich. Bertran hat sein Schneckenhaus in ein paar Sätzen, in der ständigen Bereitschaft zu ein paar Sätzen, die er zu Fremden sagen kann. Er sagt noch ein paar Sätze darüber wie lustig und versoffen der Floridianer sei. Nachdem er wieder ein richtig großes Stück Toffeekuchen runterschluckt, blickt er mich erwartungsvoll an. Der Kuchen muss weg, soll das heißen.

-„I take one more piece, then I am done with it.”

-“John would have liked this cake so much. He would have loved it“, sagt er und ich spüre die abgrundtiefe Trauer, ich höre das Schluchzen im Text. Bertran erzählt noch ein, zwei Dinge über John. John mag Deutschland, weil er Bier mag. John ist lustig. John war, als ich ihn gestern gesehen habe, jedenfalls saubesoffen, soviel kann ich sagen. Er und der Mexikaner haben die ganze Nacht wie Hunde gejault. Bertran verwendet Snapchat. Er hat die Kuchengabel in der einen, das Smartphone in der anderen Hand, er zeigt mir Bilder von letzter Nacht, die er an die Anderen verschickt und ich sage, dass er wohl viel jünger sein müsse als ich, weil das an mir noch vorbeigegangen sei. „I am twenty seven“ , sagt er, „I am probably to old to use it.“

Sein Flug geht am Nachmittag und er will einfach hier sitzen und darauf warten. Ich verabschiede mich. Weil ich nicht warten kann, weil ich keine Sätze dabei habe, die ich so sagen kann. „Have a safe trip home“ sagt er. Das trifft mich. Er soll mir die Fremdheit lassen, lässt er aber nicht, er soll mir den Abschied ersparen, tut er aber nicht. Gemeinsamkeit und Trennung. Der erste Zug des Spiels ist der Letzte, der Anfang des Zeichens ist sein Ende, weil es Eines ist und nur so kann es wirken. Ich bilde mir ein wir hätten einen Krieg gemeinsam überlebt, unser Blut sei ineinander geflossen, wir hätten eine Vision geteilt, wir wären gemeinsam in einen Orden aufgenommen worden, wir hätten eine uns für immer bindende Aufgabe erhalten, wir hätten etwas ganz Festes, Hartes, Unzerstörbares geteilt. Ein Stück Toffeekuchen wenigstens. Ich wolle mir noch das Denkmal des Ghetto-Aufstands ansehen, erzähle ich ihm, während ich den Reißverschluss meiner Reisetasche zuziehe.

-„You are paying your German debts.“

-„I am afraid I can’t pay them all at once.“

-“Then you have to come back another time.”

(c) Text and Image: Michael Brunner (2018)