„Lebendiges Wissen wird in Echtzeit abgesaugt.“ Antonio Negri’s Vorschläge für eine „neue Europäische Union“

Von Michael Brunner/

Der italienische Philosoph Antonio Negri, bedeutender Vertreter des so genannten „Operaismo“, war am 04. Juni 2018 in Wien zu hören. Als erster Redner der von der Akademie der Bildenden Künste neu eingerichteten Serie von Otto-Wagner-Lectures (2019 folgte Vandana Shiva: Soil not Oil | The transfer from the age of fossil fuel for the awareness of a living Earth), präsentierte Negri seinen Vortrag unter dem Titel „A subject for europe.“ Da ich mir zwei Jahre nach diesem Auftritt mit Fragen nach den Folgen des Anthropozäns für Grundbegriffe der politischen Philosophie, wie Freiheit und Gerechtigkeit, den Kopf zerbreche, blätterte ich jetzt wieder durch meine Notizen. Das Anthropozän beschreibt nicht nur eine ökologische, sondern auch eine soziale Krise. Bruno Latour spricht von der Notwendigkeit eines „geo-social class struggle“. Auch die Pandemie weist uns wieder einmal darauf hin, dass die drängenden Probleme nur global und kooperativ gelöst werden können. Aus diesem Grund möchte ich Negris neomarxistische Interpretation der im Kontext der Globalisierung wirkenden Kräfte an dieser Stelle teilen.
(Vielleicht auch als Geburstagsgruß? Am ersten August wurde Negri 87 Jahre alt.)

Negri ist zusammen mit Michael Hardt Autor der Bücher Empire (2001), Multitude (2006) und Common Wealth (2009). Ab den 1960er Jahren war Antonio Negri als deren politischer Theoretiker maßgeblich in der italienischen Arbeiterbewegung engagiert. Zuletzt veröffentlichten Negri und Hardt das Buch Assembly (2017), in dem sie unter anderem auch um eine Beseitigung geläufiger Anachronismen rund um den Begriff der Arbeit bemüht sind. In Wien destilliert Negri aus den Werken der vergangenen Jahre seine Perspektive für eine „neue europäische Union.“  

In seiner in Wien gehaltenen Vorlesung ging es Antonio Negri, dem Rahmen der Otto Wagner Lectures zum Trotz, nur wenig um Architektur, es sei denn er gebrauchte sie als Metapher in seinen zentralen Ausführungen über die „Architektur der Europäischen Union“.  Tatsächlich war sein Text ein rhetorisch aufwendiger Aufruf zum gemeinschaftlichen Handeln. Statt Objekt einer zentralisierten Herrschaft zu sein, solle Europa als eine Gemeinschaft, als ein handelndes Subjekt, als eine Kommune, wiederaufgebaut werden. Negri versucht sich in seinem Vortrag, wie in seinen neueren Büchern, an einer radikalen Neuausrichtung des kritischen, (neo)-marxistischen Kompass an den Produktions-und Arbeitsbedingungen der Gegenwart. Anschaulich wurde dabei mehr als in seinen Büchern die eigentümliche Verbindung, die Negri methodisch zwischen einem aufklärerischem Aufruf zur Selbstermächtigung der Vielen einerseits und den Begriffen und Analyseinstrumenten der marxistischen Linken andererseits herstellt. Er nimmt dabei die aus seiner Sicht richtigen Grundintuitionen des politischen Liberalismus auf, der als politischer Grundkonsens  im großen und ganzen die westlichen Demokratien prägt. Dazu gehören etwa der Wert der Freiheit von Personen und Gütern und die Garantie der Menschenrechte. Diese unverhandelbaren Grundintuitionen ergänzt er aber um eine jeweils spezifische Interpretation, die sie letztlich als Legitimation von Ungleichheit untauglich machen sollten.
Insbesondere nimmt er im Verlauf seines Wiener Vortrages konkrete Anpassungen an den so wesentlichen politischen Begriffen der Freiheit, der Macht und der Arbeit vor.

Physische Freiheit

Mit den kursierenden Freiheitsvorstellungen ist Negri unzufrieden. Unspezifische Freiheit ist als ethisches und politisches Gut zwischen den unterschiedlichsten politischen Ideologien und Theorien offener Gesellschaften unstrittig. Der italienische Philosoph wird in Bezug auf diese Freiheit jedoch schnell spezifisch. Eine der zentralen Kontroversen in Bezug auf eine kausal vollständig globalisierte Welt ist die Frage nach der globalen Freiheit oder Freizügigkeit. Dabei geht es, aus Negris Sicht, jedoch um ein noch allgemeineres Problem als das, ob Menschen von den benachteiligten Zonen der Welt in die prosperierenden migrieren dürfen.
Freiheit sollte nicht nur in unseren konkretesten Vorstellungen davon, sondern auch in ihrer philosophischen und politischen Bedeutung grundsätzlich auch als physische Freiheit verstanden werden. Wenigstens sollte Freiheit, als Menschenrecht interpretiert, die Möglichkeit über seinen Körper frei zu bestimmen als zentralen Aspekt einschließen. Die große Beachtung, die eher abstrakte Freiheitsvorstellungen in der politischen Theorie erhalten hätten, hätten die physische Grundbedingung der Freiheit in den Hintergrund gerückt.

Arbeit: „Lebendiges Wissen wird in Echtzeit abgesaugt.“

Der zweite politische Begriff, der aus der Sicht Negris heute nicht mehr richtig verstanden werde, sei „Arbeit“. Hier sei es insbesondere die politische Theorie der Linken, in der „Arbeit“ mit vielen Anachronismen behaftet sei.
Der letzte große Arbeitskampf, in dem die traditionelle Gleichung Welfare + Industrielohn verhandelt worden sei, habe, so Negri, 1995 , also vor einem Vierteljahrhundert, stattgefunden.* An dessen Stelle sei heute die Biopolitik getreten. Die heutigen Konflikte fänden auf dem Terrain der Produktion und Verwertung des Lebens statt. Arbeit habe sich heute von einer mechanischen, körperlichen, physische Ressourcen aufbrauchenden Arbeit in eine kognitive und kommunikative Arbeit verwandelt. Negri betont mehrfach, dass diese Verwandlung des Charakters der Arbeit sehr positiv zu bewerten sei. Da Negri Freiheit materiell, das heißt im konkreten Fall der Freiheit eines Menschen physisch versteht, bietet diese Entwicklung das Potential zu mehr Freiheit. Allerdings, das ist die Kehrseite, sei dadurch die Kongruenz von Kapital und Arbeitskraft größer geworden. Während die mechanische Arbeit ein „Außen“ habe, für und mit dessen Hilfe der Arbeitskampf kämpft, gebe es für die neue Form der Arbeit, für die gegenwärtige Herrschaft des Kapitals, kein „Außen“ mehr. Die neuen Arbeitsformen erfordern und ermöglichen Kommunikation, Subjektivität und Singularität. Sie umgreifen und verwerten dadurch aber auch jene Aspekte des Lebens, die früher (so wenig Raum es dafür im Einzelnen gegeben haben mag) außerhalb der Arbeit und außerhalb der privaten oder staatlichen Wertschöpfung angesiedelt waren, da sie Güter wie die Natur oder Ideen betrafen, die allen gemeinsam gehörten. Da die neuen Produktionsformen durch das Mittel der kreativen und kommunikativen Arbeit die Natur und das Wissen „privatisierten“, seien sie Teil einer Tendenz zur Totalität der kapitalistischen Wertschöpfung. Das Kapital lebe nicht mehr nur von der physischen Arbeitskraft, sondern schöpfe die Subjektivität der Arbeitenden, ihr Erleben der Welt, ihr Wissen, ihre Kommunikation und ihre Ideen und damit ihr individuell Privates in produktiver Weise ab. Das Private ist nicht mehr nur im Sinne des berüchtigten Slogans der 68er politisch, es ist – anschaulich in den sozialen Medien – Rohstoff und Produkt der Wertschöpfung.  Die privaten Kommunikationsmedien, die unser gegenwärtiges Leben augenscheinlich so stark bestimmen, sind also keinesfalls privat in dem Sinne, dass sie uns gehörten. Sie sind „privat“ in dem Sinne, dass sie einem privatwirtschaftlichen Unternehmen als Ressource dienen. Sie sind eine Manifestation der als Produktivität abgeschöpften Subjektivität, die dadurch natürlich aufhört Subjektivität zu sein.

Laut Negri hänge die heutige Situation der globalen Bevölkerung als ganzer offenkundig von geopolitischen Fragen ab. Als ein Materialist der Freiheit, der auch ein Materialist des Raumes sein muss, betrachtet er politische Dynamik auch als eine Art tektonischer Bewegung und Politik als Erd-Klima und Bioressourcenforschung.  So dient ihm der gegenwärtige Zustand der europäischen Union als Anwendungsbeispiel für seine Strategie, disziplinarisch wirkende Machtkonzentrationen aufzubrechen und den historisch dominanten Konzepten des privaten und öffentlichen Eigentums das Konzept der Multitude als gemeinschaftliches Subjekt entgegenzustellen. Das materialistisch-humanistische Update der Begriffe „Freiheit“ und „Arbeit“ bieten dafür die Grundlagen.

Die europäische Union und die Nationalstaaten: Negri’s politische Problembeschreibung

Für Negri lebten die heutigen westlichen Demokratien „in der Agonie des kalten Krieges weiter.“ Negris US-Amerikakritik erregt den Verdacht Standardrepertoire linker Makropolitik abzuspulen. Allerdings kritisiert er nicht die USA direkt, sondern den Fokus den Europa auf die transatlantischen Beziehungen lege. Europa definiere sich gerade zu über diese Beziehungen. Stattdessen müsse das politische Europa im Gleichgewicht zwischen Europa und Asien neu entstehen.
Auch innerhalb der europäischen Union herrsche kein Gleichgewicht, sondern ein  Zentrum disziplinarisch über seine Peripherie. Brüssel als Zentrum, das seine geographische und politische Peripherie regiere, illustriere als geographische Mitte die Machtverteilung innerhalb der Europäischen Union. Brüssel habe sich fast vollständig von Südeuropa gelöst. Demokratische Konfrontation sei innerhalb und zwischen den Staaten Europas fast vollständig abgeschafft und durch disziplinarische Maßnahmen ersetzt worden. Womöglich zeichnen sich innerhalb dieses disziplinarischen Zentrums der EU gegenwärtig neue, zusätzliche Konfrontationslinien ab: etwa zwischen den „Sparern“ plus Visegrad-Staaten, die lediglich daran interessiert scheinen, maximal zu profitieren und denjenigen, die bereit sind europäische Integration teurer zu erkaufen.
Negri fordert die Wiedererrichtung der europäische Union unter einer völlig neuen Idee und mit neuen Mitteln. Die europäische Union, wie wir sie heute kennen, betrachtet er als gescheitert. Gescheitert sei sie vor allem aufgrund der Methode, mit Hilfe derer man die  Union als „Friedensapparat“ etablieren wollte. Die Vorstellung von der Zollunion zur Kulturunion gelangen zu können, sei eine Illusion und im Ansatz falsch gewesen. „Man hat es vorgezogen eine Macht zu schaffen, anstatt eine Gemeinschaft zu schaffen“, kritisiert er.
Wie sehr die europäische Union als ein Macht-Agent handle, zeige sich etwa in der Art und Weise, in der der „griechische Frühling“ beendet worden sei. Dies sei keineswegs die Niederschlagung einer Revolution gewesen, also ein außerordentlicher Moment der Selbstverteidigung eines Systems, sondern ein normaler Verwaltungsakt innerhalb der EU. Hätte die Regierung des griechischen Premierministers Tsipras Widerstand geleistet, so Negri, hätte dies nur in eine noch größere Katastrophe geführt. Dies beweise die Selbststabilisierungsmechanismen der EU, deren disziplinarische Mechanismen keinen Verteidigungsfall, sondern den Normalfall innerhalb des bestehenden Systems darstellten.
Eine vergleichbare disziplinarische Rhetorik findet sich, meiner Meinung nach, auch in der europäischen Reaktion auf die grassierende Pandemie. Auch wenn das Sanktionsprinzip mittlerweile Konkurrenz durch die Allgegenwart der Forderung nach „Solidarität“ bekommen hat.

Diese Herrschaftsstrukturen, so Negri,  müssten als ganze verändert werden, um eine Alternative zuzulassen. Für Griechenland habe es kein ‚Außen‘ gegeben, mit dessen Hilfe es hätte kämpfen können. So wenig wie es für die postmoderne Arbeiterschaft ein solidarisches „Außen“ gebe.

Was die Problembeschreibung betrifft, eröffnen sich in Negri’s Kritik an der EU heikle Momente der Übereinstimmung zwischen Links und Rechts. Der neue Nationalismus lehnt wie Negri und ein nicht unwesentlicher Teil der Linken die heutige EU ab. Doch die Unterschiede überwiegen. So lehnen Nationalisten nicht die disziplinarische Herrschaft als solcher ab, sondern wollen lediglich die disziplinarische Konkurrenz von Brüssel und den Nationalstaaten zugunsten letzterer entscheiden. Der Nationalismus agiert gegenüber der EU nicht anders als ein Nationalstaat gegenüber einem anderen. Darüber hinaus wendet sich Negri, anders als die Nationalisten, nicht gegen die Idee Europas und die Notwendigkeit seiner kommunalen Einheit. Die historischen Erblasten, wie der Kolonialismus und die Weltkriege, die auf dem Begriff „Europa“ liegen, wiegen aus seiner Sicht nicht schwerer als die Momente der geographischen und geopolitischen, klimatischen, ethnischen Einheit sowie der Einheit der Quellen der gelebten Kulturen, die eine europäische Gemeinschaft stiften sollten. Die problematische Gegenwart und Vergangenheit fordere allerdings, dass Europa „auf der Basis des Bruchs“ wieder aufgebaut werde.

Die Vielen und die Macht: Gibt es die Möglichkeit zur Veränderung?

Wenn es um die Frage der möglichen Veränderung geht, scheut Negri phasenweise vor politischem Pathos nicht zurück. Gibt es eine Chance eine solche grundsätzliche Veränderung herbeizuführen?
Ja, durch eine Kritik der Macht. Aber was ist Macht?
Macht als elementaren Begriff einer Soziologie lehnt er ab. Sie ist für Negri ein Wesen mit verschiedenen konkreten Eigenschaften. Sie bestimmt eine Herrschaftsstruktur. Sie ist begrifflich nicht elementar. Sie ist keine methodische Voraussetzung seiner Analyse, insbesondere ist sie nicht soziale Kausalität. Es gibt etwas anderes gegenüber der Macht. Es gibt Kooperation und Gemeinschaft und diese können nicht einfach als Macht anderer Form oder als aufgeteilte Macht verstanden werden. Außerdem sei keine Macht total, weder historisch noch theoretisch. „Die Macht ist kein Leviathan“, wiederholt er mehrfach. Einen Rest Widerstand gebe es im schwärzesten Totalitarismus, in den Konzentrationslagern, in den Gulags, in der Ausbeutung von Arbeiter*innen und Sklaven. Ihre bloße Existenz sei Widerstand. Die Tatsache, dass der Widerstand existentiell nie aufgehoben werden könne, sei nicht bloß ein Trost gegenüber pessimistischen Philosophien. Als Keimzelle des Widerstands rechtfertige sie den Handlungsoptimismus. Dieser Keim des Widerstands zeige sich auch darin, dass eben auch das Absaugen der Subjektivität durch das Kapital niemals vollständig geschehe. Es bleibe immer ein Rest.

Diese Idee einer notwendigen Dialektik zwischen Macht und Widerstand dient Negri als Mittel Veränderung zu motivieren. Er fordert, nicht bloß in Bezug auf die EU, eine „Transformation“ der Macht. Die durch die Macht geschaffenen Strukturen müssten verändert und nicht bloß Machtpositionen neu besetzt werden. Die Idee, dass man den Staat als Machthebel für eine positive Veränderung benutzen könne, wie dies prominente Sozialreformer wie Jean Ziegler oder die Soziologin Chantal Mouffe fordern, sei falsch. Die Idee des Linkspopulismus, der vorgebe die vorhandenen Herrschaftsstrukturen zugunsten der postmodernen Arbeiterschaft einnehmen zu können, lehnt Negri aus diesem Grund ab. Man könne in einer Welt, in der es kein Außen mehr gebe, nicht auf diese Weise „Inseln der Neutralität“ errichten. Die Gemeinschaft müsse als Gemeinschaft zu ihrem eigenen Wohl handeln. Aus dem immer vorhandenen Widerstand müsse eine „pragmatische Gegenkraft“ mobilisiert werden. Diese Gegenkräfte müssten konkret zu einer vollständigen Ablehnung der Institutionalisierung von Schulden, zur absoluten Ablehnung des Krieges, zum Kampf gegen Ghettoisierung, sowie gegen internen und externen Kolonialismus eingesetzt werden. Geschaffen werden müsste eine „globale Republik“ gegen die „imperiale Monarchie“. Der Liberalismus als maßgebliche politische Ideologie des Westens hingegen lehne jede Art von institutionalisiertem Wohlstand für die Armen, aber immer mehr arbeitenden Menschen ab.

Gesellschaftlicher Umbruch als Vernunftakt?

Negris Argumente erlauben es, sich die Umrisse seiner Utopie auszumalen. Seine optimistische Ausstrahlung macht schließlich die Attraktivität von Negris Schriften, Reden und Vorschlägen aus und kennzeichnet ihn als einen zwar radikalen Theoretiker, aber versöhnlichen Marxisten, der auch in der Sprache seine pazifistische Gesinnung ernst nimmt. Sein Klassenkampf ist kein Kampf im eigentlichen Sinne, der Sieger und Besiegte generiert. Man stellt sich die Umstrukturierung, die zur Verwirklichung seiner demokratischen Utopie notwendig wäre, weniger wie eine Revolution, sondern eher wie einen kollektiven Akt der Übereinkunft, und damit als einen Akt der Vernunft vor. Die sprachliche entschärfte Form, in die er seinen Aufruf zur Systemveränderung kleidet,  spiegelt die Verschmelzung von liberal-rationalistisch-humanistischen Idealen und eines marxistischen Materialismus in seinen Analysen wieder.

Die in ihrer Anwendung auf Fragen der globalen Migration heute unter Linken nicht immer unumstrittene ehemals linke Kernbotschaft der internationalen Solidarität wird von Negri in eine postnationalistische Sprache übersetzt und erhält eine politische, philosophische und ethische Dringlichkeit, die über die „Brüder im Kampf“-Vorstellung vergangener Zeiten hinausgeht. Der Aufbau auf Basis des Bruches könne nur erfolgen, indem man für die „materiell relevanten Themen“ kämpfe, für die „physische Freiheit“ aller und nicht zuletzt auch für die „Durchmischung der Kulturen“.  Sicherlich gut gemeint ist diese Forderung. Dennoch bleibt die Terminologie irritierend. Dort wo allzu buchstäblich von Durchmischung die Rede ist, ist die Gefahr groß, dass eine gefährliche Sehnsucht nach Differenz in bloß sublimierter Form noch immer lauert.

Tatsächlich geht es dem „Operaisten“ Negri offenbar nicht um „Toleranz“, „Nebeneinander“ oder „Integration“. Er greift die kulturalistische Begrifflichkeit auf und verlangt gleichzeitig ihre Auflösung. Seine Forderung nach einer Durchmischung der Kulturen ist natürlich in erster Linie als Provokation gegen diejenigen Unverbesserlichen zu verstehen, die etwas gegen diese „Durchmischung“ haben. Und in zweiter Linie als Polemik gegen einen liberalen Kompromiss der bloßen gegenseitigen Duldung. Es geht ihm letztlich um eine Kritik am Fetisch der Identität von Kultur und Kommune. Wir brauchen keine Gemeinschaft, in der wir als abstrakte Staatsbürger*innen aller unserer biographischen Eigenschaften entkleidet sind, während wir im Privaten unsere Unterschiede praktizieren dürfen. Wir brauchen eine Gemeinschaft, in die alle unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten einbezogen werden können, und in der wir alle mit unseren jeweiligen Unterschieden vollen Wert entfalten dürfen. Hier zeigt sich wieder die humanistische Wurzel von Negris Vernunftmaterialismus: Gemeinschaft und kommunales Handeln seien nicht von einer gemeinsamen Identität abhängig, sondern universell. Erst durch die Unabhängigkeit der Kommune von einer äußerlich bestimmten Identität können letztlich alle Hürden für eine europäische oder globale Gemeinschaft beseitigt werden. Erst dadurch sei es möglich die Verantwortung für alle in die Hände aller zu legen.

*Gemeint ist wohl: November-Dezember 1995, Generalstreik durch die Gewerkschaftsverbände CGT, FO, CFDT gegen die Reformpläne der neu gewählten Regierung Juppé/Chirac.

Bemerkung des Autors:

Antonio Negri trug seinen Text und die Antworten auf die anschließenden Fragen ohne visuelle Unterstützung in italienischer Sprache vor. Die hier zusammengefassten Ideen und Zitate wurden auf Basis der Live-Simultanübersetzung des mündlichen Vortrags transkribiert. 

M. Brunner (2019)

Image: Antonio Negri und Michael Hardt
(c) Campus Verlag (2019)