Die Tür

von Tine Kramer/



Ein Bild von dir taucht vor mir auf: Du bist ein kleiner Junge. Etwas über 6 Jahre alt. Du versteckst dich in der Küche, sogar unter dem Küchentisch, obwohl er, dein Vater, ohnehin nicht in die Küche kommen wird. Deine Mutter, die dich in dieses fremde Land mit dieser fremden Sprache mitgenommen hat, steht in der Tür und sagt deinem Vater, du seist nicht da. Sie täuscht einen Schulausflug vor. Wahrscheinlich fühlte es sich so an, als würde sie dich beschützen. Dein Vater, ein wenig hilflos, vielleicht auch ein bisschen verzweifelt, fragt, ob du seine Briefe bekommen hättest. Sie gibt ausweichende Antworten und sagt ihm, er solle das lassen. Jetzt glaubt er ihr nicht mehr, dass du nicht da bist. Aber was soll er tun? Er kann sie nicht zur Seite stoßen, um nach dir zu suchen. Um dich wieder in den Arm zu nehmen. Immer noch scheint ihm die ganze Situation unfassbar. Sie wollte doch nur einen zweiwöchigen Urlaub mit dir machen und dich rechtzeitig zu deiner Einschulung in deinem Heimatland wieder zurück nach Hause bringen. Dann kam der erste Anruf, ihr würdet noch ein paar Tage länger bleiben, das Wetter sei so schön und bis zum Schulbeginn sei ja noch Zeit. Deine erste Schultasche, die Hefte, dein Federmäppchen lagen schon bereit, um dir freundliche Begleiter beim Lernen zu sein. Gemeinsam hattet ihr sie ausgesucht, jetzt liegen sie wie Mahnmale in deinem früheren Kinderzimmer. Dein Vater hatte schon früh bemerkt, dass du talentiert warst, viel und schnell Neues erkundetest und dir merktest. Dein ganzes Leben über wird dir das Lernen leichtfallen. Wie auch die fremde Sprache dir bald leichtfiel. Du erzähltest mir einmal: Als du noch nicht richtig sprechen konntest, sprachst du kaum ein Wort; deine Mutter machte sich schon Sorgen, etwas könnte nicht mit dir stimmen. Dein Vater aber sah deinen aufmerksamen, klugen Blick, deine denkende Stirn und beruhigte sie, das werde schon werden. Von einem Tag auf den anderen begannst du zu sprechen, und zwar fehlerfrei. Wie gern würde dein Vater jetzt deine Stimme hören, wenigstens ein paar Worte mit dir sprechen können. Als der Freitag, an dem deine Mutter dich wieder nach Hause hätte bringen sollen, verstrich, rief er am Samstagmorgen im Hotel an. Doch ihr wart nicht mehr da und der Mann am Telefon durfte ihm nichts Weiteres sagen, als er fragte, wann ihr abgereist wärt. Wohl schon in den Tagen zuvor hatte deinen Vater ein komisches Gefühl beschlichen, aber er wollte der düsteren Ahnung nicht zu viel Glauben schenken. Seitdem sind drei Monate vergangen. Nun steht er hier und zum ersten Mal wird ihm wirklich endgültig klar, dass er dich verloren hat. Dass du nicht wieder bei ihm leben wirst. Dass du seine Briefe nicht bekommst, dass er dich nicht sehen darf. Kein Gericht sagt das, aber die Frau in der Tür, die er mal liebte, zeigt es. Sie war vor vier Jahren aus einem plötzlichen Impuls in wiederum ein anderes Land gegangen, um ein neues Studium zu beginnen; es würde nicht lange dauern und sie käme ja sicherlich jedes Wochenende nach Hause, meinte sie. Du warst zwei Jahre alt und ab diesem Zeitpunkt kümmerte sich fast ausschließlich dein Vater um dich. Wenn er nicht von Zuhause aus arbeiten konnte, war deine Oma für dich da. Deine Mutter kam zwar regelmäßig nach „Hause“, aber das bedeutete Chaos, Verwirrung und Streit. Eine Fremde kam, die eigentlich gar nicht kommen wollte. Und du konntest dieses Kommen und Verlassen einfach nicht begreifen. Eigentlich konnte es niemand begreifen. Vier Jahre ging es so, die Besuche deiner Mutter wurden immer seltener. Im letzten Jahr schließlich erzählte sie deinem Vater, sie habe jemanden kennengelernt, den sie heiraten möchte, sie bräuchte jetzt seine Unterschrift für die Scheidung. Es überraschte ihn nicht, aber der Schmerz, der aufkam, deutete darauf hin, dass es wohl doch noch ein merkwürdiges Festhalten an eurer kleinen, wohl traurigen, aber immerhin ganzen Familie gab. Die hölzerne Wohnungstür, vor der er steht, in dem hübschen Mehrfamilienhaus, gehört ihrem neuen Mann. Er hat nichts gegen ihn. Er empfindet keine Eifersucht. Er gibt ihm keine Schuld. Wütend ist er auf deine Mutter, die so tut, als sei das alles doch ganz gewöhnlich und doch so abgesprochen gewesen und jetzt seist du eben nicht da, es wäre auch wirklich bescheuert, hier einfach so aufzukreuzen, wie lang er denn gefahren sei, doch sicher 14 Stunden, wer mache denn so was, auf jeden Fall müsse er jetzt aber wieder gehen, das würde er sicherlich verstehen, es geht eben gerade nicht, er solle das nächste Mal bitte vorher Bescheid sagen, dann könne man sehen, ob es ginge. Er weiß, in diesem Moment weiß er es, sieht er es an ihren lügenden Augen, dass es nie „gehen“ wird. Ohnmächtig, wie ein geprügelter Hund, geht er die Treppen hinunter. Sie ruft ihm noch hinterher, er solle wirklich anrufen das nächste Mal. Die Tränen steigen ihm in die Augen. Schnellen Schrittes läuft er zum Auto, setzt sich auf den Fahrersitz und beginnt laut zu weinen. Hier wirst du ihn nicht hören können.
Deine Mutter kommt zurück in die Küche und sagt dir fröhlich, dass du jetzt mit dem lustigen Versteckspiel aufhören könntest, er sei jetzt wieder weg. Und dass sie dir jetzt dein Lieblingsessen kochen würde. Und vielleicht könntet ihr ja morgen noch in das große Spielzeuggeschäft fahren, dort könntest du dir etwas aussuchen, was dir gefällt.

(c) Tine Kramer 2021

Bild: O.T. von Benjamin Kiu, Öl auf Holz, 2021.