Er zeichnete die verschiedenen Blätter und Äste…ineinander verflochten…wie Skulpturen…Eine Welt aus Vertikalen und Horizontalen, aus allem das in den Himmel wächst, vom Boden in den Himmel. Als er die Augen schloss, wurde ihm schwindlig und das innere Bild der grünen Bäume und Sträucher verwandelte sich, die Blätter wurden scher, schwer von Fleisch und eine roten Masse. Von Blut.
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Aus der Ferne, im Regen. Aus dem Maschinenraum #8

In diesem Moment setzte ein Regen ein, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Der Himmel blieb hell, fast blendend weiß. Aber von ganz hoch oben, wo die Wolken sorglos schwebten als hätten sie damit nichts zu tun, ergoss sich mit boshaftem Eifer ein Strom. Vollkommene Stille. Die Vögel mussten sich auch unter dem dichtesten Blattwerk mit geschlossenen Augen schütteln, der Wind fuhr in den dichten Regen und peitsche ihn gegen Mauern, aus den Niederungen trieb die Hitze das kühle Wasser in gespenstischen Dampfwolken zurück in die Luft, auf den vorher staubigen Wegen ergossen sich braune Ströme. Sirenen heulten, Erdrutsche begruben halbe Städte aus Blechhütten unter sich.
(21.04.) -
Dichtung. Aus dem Maschinenraum #7

Im Schutz der Nacht
Kann der Dichter dichten
Im Mondschein
Kannst du dichten
Wenn die Kirschbäume blühenKann er dichten
Über der Großstadt schwebend, die Nachts ihr Licht ausatmet
Kann ich dichtenWenn ich wie ein Luftballon voller Lachgas zur Decke steige
Kann sie lachen
Kann man dichten
Und niemals/niemand sonst.
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Auszug. Aus dem Maschinenraum #6

Der verhaftete Reichsbürger Josef K. trug seine riesige, im leichten Wind sanft an einem massiven meterhohen Rundholz wehende Fahne schwitzend mit beiden Armen. Zu beiden Seiten geleiteten ihn freundliche Beamte in einem feierlichen Marsch den Weg hinunter und schließlich auf die kleine gebogene Straße, vorbei am Gemeindefriedhof. Hinter der Friedhofsmauer sah ich in der Mittagssonne zwei junge Männer mit ihrer Mutter am Grab, des Vaters vielleicht?, stehen. Sie hielten sich leicht gebückt und die Hände gefaltet, so wie es der Friedhofsboden bestimmte. Als der Blick eines Polizisten die Augen des jüngeren Mannes kreuzte, rückte dieser kurz seinen Rücken gerade, als ob er sich seines befremdlichen Aussehens bewusst werden würde. Schon war er im Begriff seine Hände voneinander zu befreien, bevor er sich doch in die Kontemplation zurück zwang. Die Aufsehen erregende Personengruppe schritt vorüber und für einen Moment war ich unendlich traurig, dass die Mauer des Friedhofs nicht um mich herum, um die ganze Welt herum reichen konnte.
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Entscheidungen. Aus dem Maschinenraum #5

Entscheidungen
Ein Kreis, eine Art Dreieck, ein Dreieck, ein Kreis, ein Viereck, ein Kreis, ein Sechseck, ein Kreis, ein Achteck, ein Kreis, etwas unbestimmtes, ausuferndes, ein Kreis, ein Zwölfeck, ein Kreis, eine Gerade, ein Kreis, ein Fettfleck, ein Kreis, ein Nachbild, ein Kreis.
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Mutig, Mutig. Aus dem Maschinenraum #4

„Niemand kannte die genauen Koordinaten, geschweige denn den Weg.
Viele sind schon aufgebrochen. Einige haben es geschafft. Aber kaum jemand
ist zurückgekehrt. Die unfreiwillig oder zufällig Zurückgekehrten
erzählen nicht. Sie sprechen kaum davon, und wenn dann nur unbestimmt
und mit Wehmut.
Sobald ich die letzten Hecken und Zäune hinter mir gelassen habe, sobald
sich jenseits der letzten Häuser eine im Wind wogende Wiese, ein Grund,
sich öffnet, die Berge in der Ferne gerade noch zu erkennen sind, denke
ich daran.
Ich denke an den Weg. Er ist weit. Er muss weit sein.
Ich wünsche mir, dass er weit ist. Jeden Tag ein neues Bild. Jeden Tag ein
neuer Aufbruch, ein neuer Wind und die Frage, wo man am Abend schlafen
wird.“
(c) Illustrationen: Annika Friedrich 2021.
http://www.annikafriedrich.com/ -
Praktische Lösung zur Sinnhaftigkeit des Lebens. Aus dem Maschinenraum #3

Praktische Lösung zur Sinnhaftigkeit des Lebens
„Ohne hinzusehen, den Blick leer zum Fenster gerichtet, worin sich sein Gesicht spiegelte, nahm er ein frisches dunkelblaues Schreibheft aus der obersten Schublade seiner Kommode.Zuerst verwendete er einen rot schreibenden Kugelschreiber, dann wechselte er zu Bleistiften unterschiedlicher Stärke, zu Tinten- und Buntstiften. Um die Spurenleser, Graphologinnen, Erbinnen und Notare zu verwirren, wenn das möglich war, die sich später einmal dieser Hefte annehmen würden, legte er abwechselnd ein Aluminiumblech, unebene Holzplatten, einen weichen Karton unter, schrieb mit links auf seinem Oberschenkel, bat verschwiegene Freunde um Hilfe und bemühte sich die Zacken seiner Handschrift in unterschiedliche Himmelsrichtungen ausschlagen zu lassen.
Wenn er an jedem Tag zehn Einträge in einem Tagebuch fälschen würde, würde jeder neue Tag ihm zehn vergangene einbringen, binnen weniger Jahre wäre er in seine Kindheit zurück gelangt. Er würde sein Leben von diesem Moment an von hinten aufrollen. Mit der vom Ursprung wegfließenden Zeit in die Vergangenheit zurücktreiben. Seine Vergangenheit, jugendlich aus seinem Kopf geboren, würde der schwerelos schwebenden Gegenwart unvermeidlich ein Gewicht verleihen. Und für die Zukunft, Himmel sei Dank, war auch ein Zweck gefunden.
Er begann zu schreiben:
17. August: Auch erfundene Tage sind nicht immer gut.“Text, Image: M.Brunner, 2020.

Aus dem Maschinenraum #2