• Über das Eintauchen, das Fremdsein und die Gastfreundschaft – HEARTLAND im Gespräch mit der Philosophin und Übersetzerin Melanie Strasser

    In der Frage nach der Weltliteratur steckt – nicht gerade verborgen, die Frage nach der berühmten „großen weiten Welt“.  Wie sehr ist das Forschen und Übersetzen an -durch und zwischen die Literaturen geprägt von diesem Verhältnis eines Irgendwo zwischen Geschirr und Bettzeug, auf dem vertrauten Sofa, vor den gut bestückten Bücherregalen, und der Größe der Welt oder der Tiefe der Geschichte?
    Ein Gespräch über das Eintauchen, das Fremdsein und die Gastfreundschaft mit der Philosophin und Übersetzerin Melanie Strasser.

    Melanie Strasser studierte Philosophie und Übersetzen in Wien, Portugal und Brasilien. Promotion zur Kannibalin. Übersetzt literarische und wissenschaftliche Texte, vornehmlich aus dem Portugiesischen, und zusammen mit dem Wiener Übersetzungskollektiv Versatorium auch Lyrik aus allen möglichen Sprachen. Momentan forscht sie in den fröhlichen Tropen, in São Paulo.

    HEARTLAND: Hallo Melanie, du bist in: Sao Paulo! Allein den Namen „Sao Paulo“ zu sagen klingt ja für jemanden weit weg davon, für jede*n in der jeweils eigenen Provinz sozusagen, verheißungsvoll und ein bisschen nach großer Story. Wie ist das gekommen, dass du von Wien nach Sao Paulo gezogen bist, und wie fühlt es sich jetzt an?

    Oh ja, der Heilige Paulus, der hätte wohl seine Freude hier. Ich wollte schon immer einmal in einer Stadt leben, in der es kein Ende gibt. São Paulo ist in jeglicher Hinsicht überwältigend. Alles ist größer, voller, lauter, schwer-schwieriger, verwinkelter, verwickelter. Und wenn es regnet, so wie jetzt gerade, dann steht alles still. Es fühlt sich unwirklich an, hier zu sein, immer noch, immer wieder. Ich habe zu meinem Glück und zu meiner Überraschung ein Stipendium bekommen, um hier ein Weilchen zum Thema Gastfreundschaft zu forschen, am Tisch theoretisch, im Alltag praktisch. Ein Stipendium bedeutet, dass die Zeit läuft, aber an das Ende, an das will ich noch nicht denken.  

    HEARTLAND: Wie kann man sich deinen Forscherinnen-Alltag in Brasilien vorstellen? Gibt es konkrete Projekte, die du verfolgst?

    Ein Forschungsalltag ist vor allem ein Suchen. Ich suche, ohne zu wissen, was zu finden ist. Meine Aufgabe ist es, etwas zum Übersetzen als Form von Gastfreundschaft zu sagen zu haben. Am Ende soll ein wissenschaftlicher Artikel dazu entstanden sein. Ich sammle also, ich lese, begebe mich hinein in Philosophien der Gastfreundschaft, der Migration, in Fragen der Ungleichheit und des Zusammenlebens. Was ich hier in Brasilien finde, und wohl nur hier, sind Kosmovisionen, indigene Weltsichten, die einen ganz anderen Blick auf das Übersetzen werfen. Der Ort, an dem man forscht, spielt also hinein, es gibt keinen neutralen Ort, an dem man sitzen und forschen könnte.

    HEARTLAND: Wie erlebst du die Gastfreundschaft in Brasilien, fühlst du dich überhaupt als Gast?

    Ich bin wohl der ideale Gast: einer, der sich wie zu Hause fühlt, aber wieder geht. Dabei frage ich mich, wo ich zu Hause bin, ob ich irgendwo zu Hause bin. Sind wir jemals zu Hause? Der Mensch hat schließlich keine Wurzeln, er hat Beine. Hier zu sein ist für mich eine seltsame Art des Nachhausekommens. Das liegt daran, dass ich mich im Portugiesischen weitgehend zu Hause fühle. Ohne in der Sprache heimisch zu sein, den Anderen zu verstehen und sich sagen zu können, fühlt man sich wohl immer einsam und fremd. Mich hier aufgehoben zu fühlen, liegt vor allem auch daran, dass man hier aufgenommen wird wie sonst nirgendwo. Jeden Tag strahlt mich jemand an. Jeden Tag plaudert jemand mit mir. Wenn ich Hilfe brauche, muss ich nicht danach rufen. Ich bin ein Gast, der sich so sehr zu Hause fühlt, dass er Dinge tut, die man als Gast besser nicht tut. Ich stelle in Frage, verliere bisweilen die Nerven ob der monströsen Bürokratie und des horrenden Verkehrs, konfrontiere meine Gastgeber mit Missständen, mit der Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die an jeder Ecke lauern. Und stoße dabei fast immer auf Wohlwollen. Das schließt ein gewisses Unverständnis nicht aus, denn was für mich anstößig ist, unzulässig, unbegreifbar, ist für jene, die hier leben, oftmals normal. Es gibt also diese Momente des Fremdseins, des Außens, des Unheimlichen. Das gehört wohl zur Erfahrung des Woandersseins. Dabei ist es lindernd, dass es nicht mein Zuhause ist. Fremder wäre ich, wenn ich bliebe. Vielleicht fühle ich mich gerade deshalb zu Hause, weil ich nicht zu Hause bin, weil ich zu Gast bin. 

    HEARTLAND: Du sprichst mit dieser Erfahrung des Woanderssein, behaupte ich mal, ja auch ein klassisches Problem an, was vielen Reisenden, gerade denen, die sich als Forschende verstehen, bekannt vorkommen dürfte. Gerade auf der historisch so stark markierten Bahn zwischen Europa und Lateinamerika.
    Drängt sich nicht unmittelbar das Problem auf, etwa als Europäer*in in einem „exotischen“ Kontext eine Differenzerfahrung auszubeuten? Wie vermittelt man, auch sich selbst gegenüber, dieses ja total authentische Gefühl einer produktiven Andersheit? Oder anders gefragt: wie schmal ist für dich der Grat zwischen Forschung und der Reproduktion von Klischees?


    Ich habe das Glück, nicht „empirisch“ oder „ethnologisch“ zu arbeiten. Ich schreibe nicht explizit über meine Erfahrungen hier, meine Begegnungen. Insofern muss ich meinen Platz zumindest in meiner Arbeit nicht stets hinterfragen. Ich habe auch das Glück, dass ich hier optisch nicht auffalle, und dass das Leben hier für mich mitnichten etwas Exotisches an sich hat. Ich fühle mich insofern gar nicht so anders. Ich will hier vor allem lernen, viel sehen; ich begebe mich auch gerne auf die Spuren von Menschen, die hier gewirkt haben, aber diese Eindrücke schreibend zu verarbeiten, das tue ich bislang nicht – vielleicht aus Angst vor dem Klischee, aus Angst vor der Profanierung. Besonders stark macht sie sich aus, wenn es um Lebensformen geht, vom Zusammenleben in indigenen Communities oder Favelas, von Religionen, von Riten. Das ist für mich schwierig, mich da hineinzubegeben, zugleich zieht es mich da hin. Da nun spüre ich die Andersheit sehr, und ich empfinde sie als nicht sehr produktiv, eher als Schock. Es beeindruckt mich, wie ein von Außen Kommender, einer wie Hubert Fichte, so eintauchen kann in eine vollkommen anders geartete Welt wie die der Religionen Bahias, dass er gar darüber schreiben kann. Es ist wohl eine Frage der Form; es müsste eine Form sein, die das Ethnologische mit dem Poetischen verbindet, eine Form, die gelebte Erfahrung in Literatur wendet.

    HEARTLAND: Welche deiner Rollen, als Literatur- und Übersetzungstheoretikerin, Philosophin, literarische Übersetzerin ist im Moment dominant?

    Seit ich hier bin, rückt mein ursprüngliches Studienfeld, die Philosophie, wieder verstärkt in den Vordergrund. Und ein für mich doch ziemlich neues Feld zieht mich immer mehr an, die Anthropologie. Das liegt daran, dass der Großteil meiner Kollegen und Kolleginnen hier aus diesem Bereich kommt, das liegt an Brasilien, in dem der Anthropologie ein sehr großer Stellenwert zukommt. Zwischendurch übersetze ich kleinere Dinge, um nicht ganz hinauszufallen aus dieser Dimension. Und immerhin, der Stapel an Büchern, die ich gerne übersetzen wollte, wird wöchentlich höher. 

    Joaquim Maria Machado de Assis
    Das babylonische Wörterbuch
    Erzählungen. Übersetzt von Marianne Gareis und Melanie P. Strasser, mit einem Nachwort von Manfred Pfister

    HEARTLAND: Als literarische Übersetzerin aus dem brasilianischen Portugiesisch hast du dich unter anderem mit Joaquim Maria Machado de Assis beschäftigt, wahrscheinlich der große Klassiker der brasilianischen Literatur. Wie gehst du mit Nähe und Distanz, Angleichung und Fremdheit beim Übersetzen um?

    Das lässt sich kaum beantworten. Übersetzen ist ein stetes Ausloten, der Versuch, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Nähe und Distanz, Identifikation und Fremdheit. Aber ich merke, dass ich doch immer mehr dahinkomme, der Fremdheit größeren Raum zu gewähren. Es zuzulassen, dass nicht alles Sinn ergibt. Es zuzulassen, wenn es hakt. Es wird meist der Übersetzung angelastet, wenn ein Text fremd erscheint, wenn es in ihm stolpert, wenn er an den Rand des Verstehens drängt. Dabei ist das doch ein Merkmal großer Literatur, dass Lücken bleiben, Offenheiten, die sich nicht kompensieren lassen. Ich bin hier auf einen Roman gestoßen, in dem sich die Sprache – analog zu den Metamorphosen, die sich in indigenen Kosmovisionen ereignen – vom Portugiesischen in eine kaum noch verständliche Sprache wandelt, die durchsetzt ist von Neologismen, von Tupiismen, indigenen Wörtern aus den unterschiedlichsten Völkern. Es reizt mich sehr, diesen Roman zu übersetzen, aber ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.

    HEARTLAND: Verrätst du uns deine Roman-Entdeckung?  

    Es handelt sich um die Geschichte von zwei indigenen Kindern, Juri und Miranha, die im Rahmen der berühmten Brasilien-Expedition der beiden deutschen Naturforscher Spix und Martius (1817–1820) nach München verschleppt wurden. Sie waren die einzigen von acht Kindern, die die Schiffsreise überlebten, starben aber bereits wenige Monate nach ihrer Ankunft im deutschen Winter. Der Roman erzählt diese – in unseren Breiten so unbekannte Geschichte aus ihrer Perspektive. Ich finde, wir in Europa, wir sollten diese Geschichte kennen. Die Autorin lebt in São Paulo und heißt Micheliny Verunschk, ein sehr brasilianischer Name, nicht wahr? Den Titel weiß ich nicht zu übersetzen, aber das Brüllen eines Jaguars klingt in ihm an.  

    HEARTLAND: Geht’s dir gut im brasilianischen „Winter“?

    Es ist der schönste Winter meines Lebens, nicht nur in klimatischer Hinsicht. Es kann kalt werden, nasskalt, grau. Dann stehen wir bei 10,11 Grad in der Nacht, 15 Grad in der Dämmerung, es kommt einem eisig vor. Aber tagsüber strahlt fast immer die Sonne, oft ist es heiß, alles klebt. Und manchmal regnet es so sehr, dass man nichts mehr sieht. Dann sind die Straßen so überströmt, dass sie nirgends mehr hinführen und die Wasserschweine unten am Fluss – „unsere kleinen brasilianischen Nilpferde“ (João Guimarães Rosa) – stehen eng aneinander. 

    HEARTLAND: Vielleicht teilst du ja auch noch den einen oder anderen Geheimtipp mit uns?

    Leider scheint mir, was den deutschsprachigen Raum betrifft, die gesamte brasilianische Literatur ein Geheimtipp zu sein. Ich nenne nur drei Namen, die bekanntesten hierzulande, und die nach wie vor fremd sind bei uns: Machado de Assis, der Größte des 19. Jahrhunderts, João Guimarães Rosa, der Größte und Fremdeste des 20. Jahrhunderts, Clarice Lispector, die Größte, die Fremdeste. Und was das Terrain jenseits der Literatur betrifft: den höchsten Punkt der Stadt im Auge behalten. Nicht vergessen, dass Brasilien wie Böhmen am Meer liegt. Einen leichten Gang üben und sich so oft wie möglich in einem abendlichen Samba auf der Straße auflösen.  

  • Museo


    de Franco Palacios/

    Expectativa, sorpresa, confusión.
    El todo y la nada. Atrapados en ese punto infinito.

    El conocimiento contenido en un punto, al que todos podemos acceder. Implosionarlo y mirar nuestro paisaje.
    Solitario, impoluto, austero, a la espera de nosotros. Estar en el interior de un museo pero mirando hacia afuera, apreciar lo que nos rodea. Mar tierra y agua…


    “Existe ese Aleph en lo íntimo de una piedra?”

    “Lo que vieron mis ojos fue simultáneo: lo que transcribiré, sucesivo, porque el lenguaje lo es.”

    (Extraído del libro “El Aleph” de
    Jorge Luis Borges.)

    Museum

    Erwartung, Überraschung, Verwirrung.
    Das Alles und das Nichts. Gefangen in diesem unendlichen Punkt.

    Die Erkenntnis gehalten in einem Punkt, zu dem alle Zugang haben. [Implosionarlo] und wir schauen auf unsere Landschaft.
    Einsam, rein, karg, auf uns wartend. Wir stehen im Innenraum eines Museums aber schauen nach Draußen, und erfreuen uns an dem, was uns umgibt. Meer, Erde und Wasser…

  • Die Tür

    von Tine Kramer/



    Ein Bild von dir taucht vor mir auf: Du bist ein kleiner Junge. Etwas über 6 Jahre alt. Du versteckst dich in der Küche, sogar unter dem Küchentisch, obwohl er, dein Vater, ohnehin nicht in die Küche kommen wird. Deine Mutter, die dich in dieses fremde Land mit dieser fremden Sprache mitgenommen hat, steht in der Tür und sagt deinem Vater, du seist nicht da. Sie täuscht einen Schulausflug vor. Wahrscheinlich fühlte es sich so an, als würde sie dich beschützen. Dein Vater, ein wenig hilflos, vielleicht auch ein bisschen verzweifelt, fragt, ob du seine Briefe bekommen hättest. Sie gibt ausweichende Antworten und sagt ihm, er solle das lassen. Jetzt glaubt er ihr nicht mehr, dass du nicht da bist. Aber was soll er tun? Er kann sie nicht zur Seite stoßen, um nach dir zu suchen. Um dich wieder in den Arm zu nehmen. Immer noch scheint ihm die ganze Situation unfassbar. Sie wollte doch nur einen zweiwöchigen Urlaub mit dir machen und dich rechtzeitig zu deiner Einschulung in deinem Heimatland wieder zurück nach Hause bringen. Dann kam der erste Anruf, ihr würdet noch ein paar Tage länger bleiben, das Wetter sei so schön und bis zum Schulbeginn sei ja noch Zeit. Deine erste Schultasche, die Hefte, dein Federmäppchen lagen schon bereit, um dir freundliche Begleiter beim Lernen zu sein. Gemeinsam hattet ihr sie ausgesucht, jetzt liegen sie wie Mahnmale in deinem früheren Kinderzimmer. Dein Vater hatte schon früh bemerkt, dass du talentiert warst, viel und schnell Neues erkundetest und dir merktest. Dein ganzes Leben über wird dir das Lernen leichtfallen. Wie auch die fremde Sprache dir bald leichtfiel. Du erzähltest mir einmal: Als du noch nicht richtig sprechen konntest, sprachst du kaum ein Wort; deine Mutter machte sich schon Sorgen, etwas könnte nicht mit dir stimmen. Dein Vater aber sah deinen aufmerksamen, klugen Blick, deine denkende Stirn und beruhigte sie, das werde schon werden. Von einem Tag auf den anderen begannst du zu sprechen, und zwar fehlerfrei. Wie gern würde dein Vater jetzt deine Stimme hören, wenigstens ein paar Worte mit dir sprechen können. Als der Freitag, an dem deine Mutter dich wieder nach Hause hätte bringen sollen, verstrich, rief er am Samstagmorgen im Hotel an. Doch ihr wart nicht mehr da und der Mann am Telefon durfte ihm nichts Weiteres sagen, als er fragte, wann ihr abgereist wärt. Wohl schon in den Tagen zuvor hatte deinen Vater ein komisches Gefühl beschlichen, aber er wollte der düsteren Ahnung nicht zu viel Glauben schenken. Seitdem sind drei Monate vergangen. Nun steht er hier und zum ersten Mal wird ihm wirklich endgültig klar, dass er dich verloren hat. Dass du nicht wieder bei ihm leben wirst. Dass du seine Briefe nicht bekommst, dass er dich nicht sehen darf. Kein Gericht sagt das, aber die Frau in der Tür, die er mal liebte, zeigt es. Sie war vor vier Jahren aus einem plötzlichen Impuls in wiederum ein anderes Land gegangen, um ein neues Studium zu beginnen; es würde nicht lange dauern und sie käme ja sicherlich jedes Wochenende nach Hause, meinte sie. Du warst zwei Jahre alt und ab diesem Zeitpunkt kümmerte sich fast ausschließlich dein Vater um dich. Wenn er nicht von Zuhause aus arbeiten konnte, war deine Oma für dich da. Deine Mutter kam zwar regelmäßig nach „Hause“, aber das bedeutete Chaos, Verwirrung und Streit. Eine Fremde kam, die eigentlich gar nicht kommen wollte. Und du konntest dieses Kommen und Verlassen einfach nicht begreifen. Eigentlich konnte es niemand begreifen. Vier Jahre ging es so, die Besuche deiner Mutter wurden immer seltener. Im letzten Jahr schließlich erzählte sie deinem Vater, sie habe jemanden kennengelernt, den sie heiraten möchte, sie bräuchte jetzt seine Unterschrift für die Scheidung. Es überraschte ihn nicht, aber der Schmerz, der aufkam, deutete darauf hin, dass es wohl doch noch ein merkwürdiges Festhalten an eurer kleinen, wohl traurigen, aber immerhin ganzen Familie gab. Die hölzerne Wohnungstür, vor der er steht, in dem hübschen Mehrfamilienhaus, gehört ihrem neuen Mann. Er hat nichts gegen ihn. Er empfindet keine Eifersucht. Er gibt ihm keine Schuld. Wütend ist er auf deine Mutter, die so tut, als sei das alles doch ganz gewöhnlich und doch so abgesprochen gewesen und jetzt seist du eben nicht da, es wäre auch wirklich bescheuert, hier einfach so aufzukreuzen, wie lang er denn gefahren sei, doch sicher 14 Stunden, wer mache denn so was, auf jeden Fall müsse er jetzt aber wieder gehen, das würde er sicherlich verstehen, es geht eben gerade nicht, er solle das nächste Mal bitte vorher Bescheid sagen, dann könne man sehen, ob es ginge. Er weiß, in diesem Moment weiß er es, sieht er es an ihren lügenden Augen, dass es nie „gehen“ wird. Ohnmächtig, wie ein geprügelter Hund, geht er die Treppen hinunter. Sie ruft ihm noch hinterher, er solle wirklich anrufen das nächste Mal. Die Tränen steigen ihm in die Augen. Schnellen Schrittes läuft er zum Auto, setzt sich auf den Fahrersitz und beginnt laut zu weinen. Hier wirst du ihn nicht hören können.
    Deine Mutter kommt zurück in die Küche und sagt dir fröhlich, dass du jetzt mit dem lustigen Versteckspiel aufhören könntest, er sei jetzt wieder weg. Und dass sie dir jetzt dein Lieblingsessen kochen würde. Und vielleicht könntet ihr ja morgen noch in das große Spielzeuggeschäft fahren, dort könntest du dir etwas aussuchen, was dir gefällt.

    (c) Tine Kramer 2021

    Bild: O.T. von Benjamin Kiu, Öl auf Holz, 2021.

  • Zum Frühstück

    von Tine Kramer/

    Zum Frühstück gab es eine Dose Mais und einen Instantkaffee. Danach rauchten wir eine Zigarette und sprachen über „Die fünf Prinzipien des Lebens“ – nun, drei davon: Resignation, Meinungslosigkeit und das zwangsläufige Scheitern der Philosophie. Gleichzeitig lehnten wir jede Form des Nihilismus ab und erklärten sie für unmöglich. Selbstmord bietet keine ideelle Lösung. Wir sind alle Idealisten? Infolge dieses Gespräches entschlossen wir uns dazu, duschen zu gehen. Es war praktisch, dass wir beide Badekleidung trugen. Wir holten den Schlauch und drehten den Hahn auf. Es war sehr kalt und bald taten uns die Köpfe weh.

    (c) Tine Kramer 2021

    Image: Leonie Schwitalla 2021



  • You’re Drawing a Line


    A poem by Stefan Lessmann/

    You’re drawing a line in the sand with a stick
    from the line stones grow:
    our wall to talk

    I gesture behind my side of the wall
    talk in circles, pause when necessary.
    You gesture behind your side of the wall
    talk in squares, no pause when necessary.

    Around us grapevines grow and cover the air with their leaves.

    You talk without break or meaning
    elaborating and analyzing and demanding
    I talk without meaning or break
    shoe lace, ice cream, plum.

    Our wall
    makes us speak louder and scream
    we’re both learning,
    but I’m tired of it.

    (c) Stefan Lessmann 2021

    Image: Details of prints (mouths) from Donatello’s St. George (Marble, 1416, Florence, Museo die Orsanmichele), Nanni di Banco’s St. Philip (Marble, 1410-1412, Florence, Museo di Orsanmichele) and St. Luke (Marble, 1408-1413, Florence, Museo dell’opera dell duomo).
    cf. Donatello und Nanni di Banco. Die Prophetenfiguren für die Strebepfeiler des Florentiner Domes. Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz,17. Bd., H. 1 (1973), pp. 1-28

  • Speaking is Harder When You Want to

    A poem by Stefan Lessmann/

    Speaking is Harder When You Want to



    Speaking is harder when you want to

    leaving the tongue like a ball on the ground.

    He throws like a girl

    but only when he has taken the ball.



    Throwing is harder when you aim

    leaving the sound like a leaf on the ground.

    The tongue erects like a man

    but only when it has touched the mouth.



    Touching is easier with a ball between them

    leaving no tongue as a ground for new sounds.

    The speech collapses like an aim

    and the ball can go wherever it wants.





    (c) Stefan Lessmann 2020

    Images: Details of prints (mouths) from Donatello’s St. George (Marble, 1416, Florence, Museo die Orsanmichele), Nanni di Banco’s St. Philip (Marble, 1410-1412, Florence, Museo di Orsanmichele) and St. Luke (Marble, 1408-1413, Florence, Museo dell’opera dell duomo).
    cf. Donatello und Nanni di Banco. Die Prophetenfiguren für die Strebepfeiler des Florentiner Domes. Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz,17. Bd., H. 1 (1973), pp. 1-28